Merkmale des Westfälischen

Charakteristisch für das Westfälische sind folgende Merkmale:

Altlanges und tonlanges a
Bewahrung des Unterschiedes zwischen dem zu ao bzw. o tendierenden altlangen a wie z.B. in Schop (Schaf), Rod (Rat), Mote (Maß), slopen (schlafen) und Posken (Ostern) und dem ursprünglich kurzen, im Niederdeutschen aber gedehnten tonlangen a wie z.B. in Water (Wasser), maken (machen), Sake (Sache), waken (wachen), Kamern (Kammer), Hamer (Hammer), late (spät), faken (oft), betalen (bezahlen), snatern (schnattern).

In den übrigen niederdeutschen Hauptmundarten wie z.B. dem Nordniedersächsischen sind diese Laute zusammengefallen: Schaop, Raot, Maot, slaopen, Paoschen, Waoter, maoken, Saok, waoken, Kaomer, Haomer, laot,, faoken, faok, betaolen, snaotern.

Derselbe Unterschied gilt für die Dehnung des kurzen a im Dativ: westfälisch vandage (heute) - nordniedersächsisch vandaog. Das tonlange a im Westfälischen hat sich aus der Brechung des alten kurzen a entwickelt - *maeken.

Westfälische Brechung
Brechungen wie in iäten / eaten (essen), wieten (wissen), Vuegel (Vogel), Vüegel (Vögel), kuaken / koaken (kochen) und Hüawe / Höäwe (Höfe).

Diese Erscheinung hat in der Brechung der alten Kurzvokale in offener, betonter Silbe ihren Ausgangspunkt, die in den übrigen niederdeutschen Mundarten gedehnt sind: westfälisch briäken (brechen) - nordniedersächsisch breken.

Ursache der Brechung der Kurzvokale ist die Schwächung der Endsilben am Ende der altsächsischen Periode, wodurch der volle Wortakzent auf der Stammsilbe zu liegen kam. Hierdurch wurde es unmöglich, sowohl die Kürze als auch die Offenheit und Hochtonigkeit der betonten Silbe aufrecht zu erhalten. Das Westfälische reagierte hierauf, indem es dem alten Kurzvokal einen anderen kurzen Laut nachstellte. Das sprachliche System blieb dem alten Zustand nahe. Das Westfälische unterscheidet immer noch 7 der 8 ursprünglichen Kurzvokale in offener Silbe.

Es steht fest, dass das Gebiet, in dem die Brechungen der Kurzvokale vorkommen, früher größer war und sich auch über Teile des westfälischen Sprachgebietes erstreckte, aus denen diese heute verschwunden sind: Die Brechungen kamen früher mit Sicherheit auch in Lippe und im Westmünsterland vor. Auch diese brechungslosen Mundarten unterscheiden noch weitgehend zwischen den alten Kurzvokalen.

Im Gegensatz zu den westfälischen Brechungen entspricht die funktionelle Verteilung der tonlangen Vokale im übrigen Niederdeutschen nicht der der altsächsischen Kurzvokale in offener, betonter Silbe. In den anderen niederdeutschen Mundarten wurden die alten Kurzvokale gesenkt. Als Folge der Senkung sind die alten Kurzvokale teilweise zusammengefallen. Die Senkung der alten Kurzvokale hat sich nicht überall mit der gleichen Intensität vollzogen, weswegen die Verteilung der alten Kürzen in den verschiedenen Mundarten in unterschiedlichem Grade vereinfacht wurde. Im Ostfälischen werden 5 der ursprünglichen Kürzen unterschieden, im Nordniedersächsischen sind es jedoch nur 3. Die Mundarten, die sich östlich der Elbe entwickelt haben, folgen hierin dem Nordniedersächsischen. Der Zusammenfall des tonlangen und des altlangen a ist eine Folge der Senkung der alten Kurzvokale.

Altsächsisch
- Kurzvokale -
Westfälisch
- Brechungen -
Ostfälisch1
- Gebrochene und gesenkte Vokale -
Ostfälisch2
- Tonlange und gesenkte Vokale -
Nordniedersächsisch
- Tonlange und gesenkte Vokale -
8 7 5 5 3
makon machen maken (tonlang) maoken maoken maoken
bëki Bach Biäke (<Beake) Biëk annen Beke (am Bache) Beek
etan essen
betara bessere
iäten (<eaten)
biäter (<beater) besser
eëten
better3
äten
bäter
eten
beter
witan wissen
sivun sieben
wiëten
siëben
wetten
siëm
wetten4
sewen
weten
(söwen) (zur Unterscheidung von seven (mit Sieb sieben))
fugal Vogel
kuman, kommen
Vuëgel
kuëmen
Vugel
kuëmen
Voggel5
komen
Vaogel
kaomen
uvil übel üëwel üëwel öwwel övel
bi-ovan oben
opan offen
buaben (<boaben)
uapen (<oapen)
uëm
uëpen
boben
open
baoven
aopen
olig, oli Öl Üalge (<Öalge) (aus olig)
Hüawe (<Höawe) Höfe
 
Hüëwe
Ööl (aus oli)
Höwwe
Ööl (aus oli)
Hööf/Höven

Das Wort gieben (geben)
Die Brechung in gieben (geben) ist auf ein kurzes -i- zurückzuführen. Dieses westfälische Wort bewahrt einen Lautstand, der älter ist als der des entsprechenden altsächsischen Wortes gevan (mit kurzem -e-). Im Gotischen, der ältesten uns überlieferten germanischen Sprache, heißt es giban (mit kurzem -i-).

Hiattilgung
Hiattilgung wie z.B. in Egger (Eier), teggen (zehn), schreggen (schreien), dreggen (drehen), reggen (rein), twegge (entzwei), bowwen, bobben (bauen), hobben (hauen), bruwwen (brauen), trüwwe (getreu), sniggen (schneien), friggen (freien), wiggen (weihen), maggen (mähen), waggen (wehen), saggen (säen), naggen (nähen), daggen (auftauen), dobben (tauen), Mobben (Ärmel), Kögge (Kühe), sröggen (anbrennen, versengen), mawwen (miauen), Schännerigge (Schimpferei), Kwaterigge (Rederei, Geschwätz), Bruwwerigge (Brauerei), Täigeligge (Ziegelei). (Im Ostwestfälischen kommt es auch in einsilbigen Wörtern zur Hiattilgung.)

Dativ
Bewahrung der Dativ-Endung wie z.B. in uppen Faile (auf dem Felde) und uppen Diske (auf dem Tisch).

Wortschatz
Besonderheiten im Wortschatz wie z.B. Rüe (Hund), küern (reden, sprechen), Gaffeltangen (Ohrwurm), Niendüer (Dielentor des Bauernhauses), Ächterkiärmsel (bewohnter Teil des Bauernhauses hinter der Diele), Wiek (Enterich), Aornd, Äörne (Täuberich, Täuberiche), Bäer (Eber), Hucht, Hüchte (Strauch, Stäucher), Gaitling (Drossel, Amsel), wane (furchtbar, sehr Adverb), nütte (tüchtig, sehr Adverb), Annewäi ("Anweide", Grasstreifen am Rande des Feldes oder zwischen zwei Feldern, ursprünglich zum Wenden des Pfluges), Hamm (Netz), Backvell (Armvoll), innen Backvell niämen, ümmebackvellen (umarmen), vanüanern (van Üanern) (heute Nachmittag), Noune (Mittagsruhe), sik up äinen/wat dräigen (sich auf jemanden/etwas verlassen), sik lätten (sich verspäten), Born (Beil), Raide (Sumpf, Teich zur Flachsbearbeitung), äiwelt (einfach), dramm (fest), Dat sitt dramm. (Das sitzt fest.), wat inne Fissen maken (etwas in Ordnung bringen) [Fissen = Dicker Faden, mit dem Garn beim Spinnen zusammengebunden wurde.], möggen (leid tun), Dat mögget mi. (Das tut mir leid.), Prütt (Kaffeesatz), anfern (antworten), Pilepoggen, Pilepoppen (Kaulquappen), Köskenwater ("Krustenwasser", Getränk aus Wasser, Soda, Essig und Schwarzbrot), würken (weben).

Konjunktiv
Komplexe Konjugation der starken Verben mit Konjunktiv: he kamm (er kam) - he kaime (er käme); ik was (ich war) - ik wöre (ich wäre); he blaiw (er blieb) - he bliewe (er bliebe); he kraup (er kroch) - he krüape (er kröche), he sochte (er suchte) - he söchte (er suchte); he wus (er wußte) - he wüsse (er wüßte).

Konsonantenverbindung 'tw' am Wortanfang
'tw' am Anfang von Wörtern, die in den übrigen niederdeutschen Mundarten mit 'dw' anfangen wie z.B. twingen (zwingen) und twiärs, twas (quer). (Im Nordniedersächsischen heißt es dwingen und dweer, dwars.) Ebenso sik vertwiälen (sich verirren) und vertwualen (verirrt).

ö(1) in der Konjugation von doun (tun)
ö(1) in 2. und 3. Person Singular Präsens von doun (tun): du döüs (du tust) und he döüt (er tut). (In manchen Mundarten erscheint ö(1) als -oi- oder -oö-.) - Im Nordniedersächsischen erscheint an selber Stelle ein anderer Laut, nämlich -ai-: he dait.

Verkleinerungssilbe -te in Pflanzen- und Tiernamen
Verkleinerungssilbe -te in den Bezeichnungen kleiner Tiere und Pflanzen wie z.B.: Krisbetten (Stachelbeere), Brummerten (Brombeere), Kasbetten (Johannisbeere), Wispelten (Wespe), Hommelten (Hummel).

Endsilbe -sel in Substantiven
Endsilbe -sel in Substantiven wie z.B. in Springsel (Heuschrecke) und Küersel (Gerede).

Aussprache
Spirantische Aussprache des anlautenden 'g': gon (gehen) wird chon ausgesprochen. Im Inlaut Aussprache wie hochdeutsches 'g' wie z.B. in leggen (legen). Es gibt einen bekannten Satz, mit dem man die Aussprache des anlautenden 'g' vorführt:
Gustav gäit in Gorn un gütt de giälen Georginen (sprich: Cheorchinen). (Gustav geht in den Garten und gießt die gelben Dahlien.)

Bewahrung des alten inlautenden und auslautenden 'sk' wie z.B. in tüsken (zwischen), Tasken (Tasche), Disk (Tisch) und Busk (Wald).
Ferner die Aussprache des anlautenden 'sch' als 's-ch': Schap (Schrank) wird S-chap ausgesprochen.

Scharfes 's' im Anlaut: seggen (sagen) wird 'sseggen' ausgesprochen.

Abfall des 'ch' im Wort 'noch': no (noch).

1 Göttingisch-Grubenhagensche Mundart.
Quelle: Die Mundart von Dorste : Studien über die niederdeutschen Mundarten an der oberen Leine (das sog. göttingisch-grubenhagensche Dialektgebiet) ; Teil 1: Die Vokale / Torsten Dahlberg. - Lund : Diss. Univ. Lund, 1934. - 210 S. ; 3 Kt.
(Lunder germanistische Forschungen 2)
2 Zentralostfälische Mundart.
Quelle: Grammatik der Mundart von Lesse im Kreise Wolffenbüttel (Braunschweig) / Ernst Löfstedt. - Lund : Håkan Ohlssons Buchdruckerei, 1933. - 77 S.
(Ostfälische Studien I ; Lunds Universitets Årsskrift N.F. Avd. 1 Bd. 29 Nr. 7)
3 Im Göttingisch-Grubenhagenschen sind einige der ehemals offenen Silben geschlossen. Die Kurzvokale in better und wetten sind so zu erklären. Außerdem ist in einigen besonderen Fällen die Einebnung der Brechung vollendet und ist ein tonlanger Vokal entstanden wie in Vugel. Lässt man diese Sonderfälle außer Acht, stellt sich heraus, dass das Göttingisch-Grubenhagensche noch fünf der altsächsischen Kurzvokale in offener, betonter Silbe unterscheidet.
4 Siehe Fußnote 10.
5 Vor -el unterbleibt die Tondehnung im Zentralostfälischen.

Stand: 29. Oktober 2007 Kontakt Zurück