Gegen Ende der altsächsischen Periode standen vier ê-Laute zwei ô-Lauten gegenüber. Dieses komplexe System wurde noch im hohen Mittelalter vereinfacht. Im Rahmen dieses Vereinfachungprozesses fielen einige dieser Laute zusammen, während andere wiederum aufgespalten wurden. Die Entwicklung der ê- und ô-Laute führte daher nicht nur zum Entstehen einer anderen Aussprache, sondern resultierte in einem anderen Aufbau der Sprache.

Da diese Vereinfachung von Landschaft zu Landschaft unterschiedlich durchgeführt wurde1, entwickelten sich verschiedene Mundartgruppen. Im Westfälischen lassen sich folgende Mundartgruppen unterscheiden: Westmünsterländisch, Münsterländisch, Südwestfälisch, Ostwestfälisch. Ähnlich wie das Westmünsterländische stellt die Grafschafter (Bentheimer) Mundart einen Übergang zu in den Niederlanden gesprochenen Mundarten dar. Das Südemsländische ist als Übergang zum Nordniedersächsischen aufzufassen.

Die ostwestfälische Mundartgruppe

Mittelniederdeutsches ê und ô
  Entstanden aus Ostwestfälisch
ê(1) umgelautetem westgermanischen â 'ai' wie z.B. in Kaise (Käse).
ê(2) germanischem 'ai' 'ai' und 'äi' wie z.B. in Klaid (Kleid) und Raip (Strick) bzw. Stäin (Stein) und äin (ein).
(Das 'äi' wird in einigen Mundarten als oe oder oi ausgesprochen.)
ê(3) umgelautetem germanischen 'ai' 'äi' wie z.B. in kläin (klein).
(Das 'äi' wird in einigen Mundarten als oe oder oi ausgesprochen.)
ê(4) germanischem 'ê(2)' und germanischem 'eo' 'äi' wie z.B. in däipe (tief) und Däif (Dieb).
(Das 'äi' wird in einigen Mundarten als oe oder oi ausgesprochen.)
ô(1) germanischem 'ô' 'ou' wie z.B. in Fout (Fuß), Bouk (Buch) und Blout (Blut).
(Das 'ou' wird in einigen Mundarten als eo ausgesprochen.)
ô(2) germanischem 'au' 'au' wie z.B. in Baum (Baum), Daud (Tod), Braut (Brot) und laupen (laufen).
(Das 'au' wird in einigen Mundarten als äo ausgesprochen.)
Umlaut zu ô(1)   'öü' wie z.B. in Föüte (Füße) und Böüker (Bücher).
(Das öü wird in einigen Mundarten als oi oder ausgesprochen.)
Umlaut zu ô(2)   'ai' wie z.B. in Baime (Bäume), Braie (Brote) und Laiper (Läufer).
(In einigen Mundarten wird , in anderen Mundarten wird oi gesagt.)

Spaltung des mittelniederdeutschen ê(2) im Ostwestfälischen
ê(2) wird im Ostwestfälischen teils zu 'ai', teils zu 'äi' bzw. 'oe' oder 'oi' weiterentwickelt wie z.B. in Klaid (Kleid) und äin (ein). Das Ostwestfälische unterscheidet sich hierin von allen anderen westfälischen Mundartgruppen. Anhand der Weiterentwicklung des mittelniederdeutschen ê(2) lässt sich darum eindeutig feststellen, ob eine westfälische Mundart zum Ostwestfälischen zu rechnen ist oder nicht.

Weitere Merkmale des Ostwestfälischen

Diphthongierung
Neben dem mittelniederdeutschen ê und ô hat das Ostwestfälische noch eine Reihe anderer Längen wie z.B. î und û diphthongiert (wie auch das Südwestfälische). Umfang und Intensität der Diphthongierung unterscheiden sich von Landschaft zu Landschaft, wodurch erhebliche regionale Unterschiede in der Aussprache des Ostwestfälischen (wie auch des Südwestfälischen) entstehen.

  î û ü ô(1) ö(1) ô(2) ê(2b,3,4)
I. Tiet (Zeit) Huus (Haus) Füür (Feuer) Fout (Fuß) Föüte (Faite) (Füße) Braut (Brot) äin (ein)
II. Têit (Zeit) Hous (Haus) Föür (Feuer) Fout (Fuß) Foite (Füße) Braut (Brot) äin (ein)
III. Tuit/Tüit (Zeit) Hius(e) (Haus) Fuür (Feuer) Feot (Fuß) Foöte/Foite (Füße) Braut/Bräot (Brot) oen, oin (ein)

(I. = wenig Diphthongierung ; II. = mäßige Diphthongierung ; III. = starke Diphthongierung)

Verschiedene Ausprägungen des Ostwestfälischen
Das Ostwestfälische zerfällt in verschiedene relativ kleinräumige Mundarten, wie Osnabrückisch-Tecklenburgisch, die Wiedenbrücker Mundart, Ravensbergisch, Lippisch (Kennzeichnet sich durch Fehlen der Westfälischen Brechung.), Paderbornisch und Waldeckisch.

Übereinstimmung mit dem südlichen Ostfälischen
Die Mundarten des Weserberglandes, des Göttinger Raumes und des westlichen Harzes (häufig als Göttingisch-Grubenhagensch zusammengefasst) zeigen dieselbe Verteilung der alten ê- und ô-Laute wie das Ostwestfälische.



Die südwestfälische Mundartgruppe

Mittelniederdeutsches ê und ô
  Entstanden aus Südwestfälisch
ê(1) umgelautetem westgermanischen â langes 'ä' wie z.B. in Käse (Käse).
ê(2) germanischem 'ai' 'äi' wie z.B. in Kläid (Kleid) und Räip (Strick) bzw. Stäin (Stein) und äin (ein).
(Das 'äi' wird in einigen Mundarten als oi ausgesprochen.)
ê(3) umgelautetem germanischen 'ai' 'ai' wie z.B. in klain (klein).
(Das 'ai' wird in einigen Mundarten als oi ausgesprochen.)
ê(4) germanischem 'ê(2)' und germanischem 'eo' 'ai' wie z.B. in daipe (tief) und Daif (Dieb).
(Das 'ai' wird in einigen Mundarten als oi ausgesprochen.)
ô(1) germanischem 'ô' 'au' wie z.B. in Faut (Fuß) und Blaut (Blut).
(Das 'au' wird in einigen Mundarten als äo ausgesprochen.)
ô(2) germanischem 'au' 'ou' wie z.B. in Boum (Baum), Doud (Tod), Brout (Brot) und loupen (laufen).
(In einigen Mundarten ist au erhalten geblieben bzw. wird als äo ausgesprochen.)
Umlaut zu ô(1)   'ai' wie z.B. in Faite (Füße) und Baiker (Bücher).
(In einigen Mundarten wird oi gesagt.)
Umlaut zu ô(2)   'öü' wie z.B. in Böüme (Bäume) und Löüper (Läufer).
(In einigen Mundarten wird oi gesagt.)


Reliktformen
Das Südwestfälische zeichnet sich durch die Bewahrung alter grammatikalischer Formen aus:

Charakteristisch ist ferner die Aussprache des anlautenden 'w' als 'b' in den Fragepronomen, die im Sauerland häufig vorkommt wie z.B. in bat (was), biu (wie) und bai (wer).


Verschiedene Ausprägungen des Südwestfälischen
Es lassen sich verschiedene relativ kleinräumige Mundarten des Südwestfälischen unterscheiden.



Die münsterländische Mundart

Mittelniederdeutsches ê und ô
  Entstanden aus Münsterländisch
ê(1) umgelautetem westgermanischen â 'ai' wie z.B. in Kaise (Käse).
ê(2) germanischem 'ai' langes 'e' wie z.B. in Kleed (Kleid) und Reep (Strick) bzw. Steen (Stein) und een (ein).
ê(3) umgelautetem germanischen 'ai' 'ai' und langes 'e' wie z.B. in klain, kleen (klein) und rain (rein).
ê(4) germanischem 'ê(2)' und germanischem 'eo' 'ai' wie z.B. in daipe (tief) und Daif (Dieb).
ô(1) germanischem 'ô' langes 'o' wie z.B. in Foot (Fuß) und Bloot (Blut).
ô(2) germanischem 'au' 'au' wie z.B. in Baum (Baum), Daud (Tod), Braut (Brot) und laupen (laufen).
Umlaut zu ô(1)   langes 'ö' wie z.B. in Föte (Füße) und Böker (Bücher).
Umlaut zu ô(2)  'ai' wie z.B. in Baime (Bäume), Braide (Brote) und Laiper (Läufer).

Das Münsterländische stimmt in der Weiterentwicklung des mittelniederdeutschen ô weitgehend mit dem Ostwestfälischen überein, während es in der Weiterentwicklung des mittelniederdeutschen ê eher dem Südwestfälischen ähnelt. Die sprachliche Mittelstellung des Münsterländischen entspricht seiner geographischen Lage im Zentrum des westfälischen Sprachraumes.

Das Münsterländische ist relativ homogen. Die Mundart des Beckumer Raumes unterscheidet sich von der des zentralen Münsterlandes.



Westmünsterländisch

Mittelniederdeutsches ê und ô
  Entstanden aus Westmünsterländisch
ê(1) umgelautetem westgermanischen â langes 'e' oder 'ä' wie z.B. in Kese, Käse (Käse).
ê(2) germanischem 'ai' langes 'e' wie z.B. in Kleed (Kleid), Steen (Stein) und een (ein).
ê(3) umgelautetem germanischen 'ai' 'ei' wie z.B. in klein (klein).
ê(4) germanischem 'ê(2)' und germanischem 'eo' langes 'e' wie z.B. in deep(e) (tief) und Deef (Dieb).
ô(1) germanischem 'ô' langes 'o' wie z.B. in Foot (Fuß), Book (Buch) und Bloot (Blut).
ô(2) germanischem 'au' langes 'o' wie z.B. in Boom (Baum), Dood (Tod), Brot (Brot) und lopen (laufen).
Umlaut zu ô(1)   langes 'ö' wie z.B. in Föte (Füße) und Bökerej (Bücherei).
Umlaut zu ô(2)   langes 'ö' wie z.B. in Brödeken (Brötchen) und Löper (Läufer).

Für das Westmünsterländische sind folgende Merkmale charakteristisch:

Grenzüberschreitender Bezug
Die Verteilung der ê- und ô-Laute im Westmünsterländischen stimmt weitgehend mit der der Mundart der niederländischen Landschaft Twente überein.

 

1 Es ist nicht bekannt, warum das System der ê- und ô-Laute von Landschaft zu Landschaft unterschiedlich vereinfacht wurde. Es fällt aber auf, dass

entspricht.

Hat die Sprache des Klerus, der auf das eigene Bistum und dessen Bischofsstadt orientiert war und die Predigt- und hier und da auch Unterrichtssprache war, die Sprache der Bauern, deren Leben sich hauptsächlich innerhalb der eigenen Gografschaft abspielte, beeinflusst? Die Domschule in der jeweiligen Bisschofsstadt hat zudem eine Rolle in der Ausbildung der Kleriker gespielt.

Inwieweit ist die vom Münsterländischen abweichende Verteilung der ê- und ô-Laute im Westmünsterland in Zusammenhang mit der Lateinschule in Deventer zu sehen? Ich gehe davon aus, dass Deventer im Mittelalter relativ bequem vom Westmünsterland aus über die Yssel und ihre Zuflüsse zu erreichen war. Dabei ist in erster Linie an die Berkel und die Bocholter Aa zu denken, die in die Issel einmündet. Schulbesuch in Deventer würde auch die niederländische Schreibweise erklären, die an manchen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen niederdeutschen Texten aus Münster auffällt.

 

Weiterführende Literatur

Geographisch-landeskundlicher Atlas von Westfalen / Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Geographische Kommission für Westfalen. - Münster : Aschendorff (1985-2014)


Foerste, William (1960)
Einheit und Vielfalt der niederdeutschen Mundarten / William Foerste. - Münster : Aschendorff, 1960. - 16 S. : 4 Karten
(Schriften zur Heimatkunde und Heimatpflege / herausgegeben vom Westfälischen Heimatbund ; Heft 4)

Zur Entwicklung des Niederdeutschen vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Karte 2 zeigt die Entwicklung der mittelniederdeutschen ê- und ô-Laute in einem großen Teil Niederdeutschlands.


Teepe, Paul (1983)
Die Struktur der monophthongischen ê- und ô-Laute / Paul Teepe
In: Niederdeutsch : Sprache und Literatur ; eine Einführung ; Band 1: Sprache / herausgegeben von Jan Goossens. - 2. verbesserte und um einen bibliographischen Nachtrag erweiterte Auflage. - Neumünster : Karl Wachholtz, 1983. - Karte 5 des Anhangs



Stand: 19. August 2020 Kontakt Zurück